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Jenseits
vom Notenpult (oder: ein etwas anderer Bratscher wird 65)
Wenn
jede Originalkomposition von der barocken Zeit bis zum wahrscheinlich
ersten Bratschenkonzert des 21. Jahrhunderts (Gil Shohat, Jungstar
der israelischen Komponistenszene hat das Opus geschrieben und Tabea
Zimmermann im Oktober 2001 in Berlin uraufgeführt) seinen Reiz
verloren hat, wenn jede Transkription für Bratsche von mittelalterlichen
Tänzen über die Cello-Suiten von Bach bis zu Verbrechen
der Neuzeit (es gibt neben den "Pop-Hits für Blockflöte"
auch "Pop-Hits für Bratsche"!) abgestanden ist, dann
strebt die/der Bratschenbegeisterte zu anderen (musikalischen) Ufern,
entweder aktiv oder passiv (als Musikhörer). Aber wo findet
man die Bratsche (auch Viola genannt) in anderen als den "ernsten"
Gefilden? Hat jemand schon von Rockbratschistinnen und Rockbratschisten
gehört? Wer ist in der Avantgarde, wer im Jazz tätig?
Bei
der kleinen viersaitigen Verwandten der Bratsche, der Geige, sieht
es mit der Migrationsbewegung von "ernsten" in andere
Musikgefilde auf den ersten Blick ganz anders aus. Zwar gibt es
auch unrühmliche Beispiele (Vanessa-Mae kann dem geneigten
Popkonsumenten nicht nur die vier Jahreszeiten fiedeln, sondern
auch werbewirksam nasse T-Shirts tragen). Die mit dem Schlüssel-
und Gummibegriff "Crossover" zu bezeichnenden Ausflüge
des so genannten "Punkgeigers" Nigel Kennedy zu Jazz,
Klezmer und Jimmy Hendrix oder einem Solo bei Paul McCartney werden
jedoch immer wohlwollend zur Kenntnis genommen (ein ganz böser
Bratschenwitz von Herrn Kennedy: was ist die Gemeinsamkeit zwischen
Bratschern und den Terroristen des 11. September? "They both
fuck up with the bowing/Boeing!"). In der Popmusik sind Streicherbegleitungungen
mit Geigen - ob solo oder im Ensemble - untrennbar mit vielen Songs
verbunden. Künstler werten ihre Musik mit Geigensolisten auf,
im Folk- und Countrybereich und "Graubereich" zwischen
Pop und Country spielt die Geige seit jeher eine wichtige Rolle.
Mik Kaminsky hat z.B. mit seiner elektrischen Geige in der Streichergruppe
neben den zwei Cellisten das Electric Light Orchestra während
der Glanzzeit (1973-1983) "erleuchtet", Dave Arbus (East
of Eden) war mit The Who (Baba O`Reilly wurde die erfolgreichste
Single) aktiv. Im Bereich zwischen Pop und Avantgarde operiert die
zynische Laurie Anderson mit elektrischer Geige. In Deutschland
kennt man im Pop- und Rockbereich Namen wie Georgi Gogow von City,
Hans Wintoch alias "Hans die Geige" oder Lonzo, die Gruppe
"Das Holz" (zwei Geigen und ein Schlagzeug) und die Inshtabokatables
(Mittelalterrock).
Aber
die Bratsche? Es gibt Ensembles mit einer Bratsche: umtriebige,
experimentierfreudige und avantgardistische Streichquartette (wie
das Brodsky Quartet, Kronos Quartet, Modern String Quartet, Soldier
String Quartet, Turtle Island String Quartet) oder das Penguin Café
Orchestra, das mit Geoffrey Richardson (auch Mitglied der Gruppe
Caravan) einen außerordentlich vielseitigen Bratscher (der
sein erstes Soloalbum "Viola Mon Amour" nannte, aber auch
Gitarre, Bass, Mandoline, Ukulele und Cuatro spielt) hatte. Und
die Solistinnen und Solisten? Wer noch weiter sucht, wird fündig:
John Cale natürlich, der Pate der elektrischen Bratsche, der
schon vor über vier Jahrzehnten aktiv war. Er hat das Instrument
dahin gebracht, wo sich kein anderes Orchesterinstrument bis dahin
vorgewagt hat! Komponist, Arrangeur, Songwriter, Sänger, Performer,
Musiker bei Velvet Underground (Viola, Piano, Bass), Produzent und
Musiker zwischen Klassik, Avantgarde, Minimalismus und Rockmusik,
sogar Schauspieler und Model. Die Herren von Cream haben die Bratsche
des vielseitigen Musikers und Produzenten Felix Pappalardi eingesetzt.
Dann
gibt es Robbie Steinhardt, der bei den Progressive-Rockern Kansas
(ja, genau, die mit dem Kulthit Dust in the Wind) Geige und Bratsche
bediente und sang. Es gibt weitere eigenständige, expressive
Solisten: In den Siebzigern waren Art Zoyd (Avant-Prog) aus Frankreich
(Viola: Gerard Hourbette) genauso wie die deutschen Artrockbands
Parzival (Hans Jaspers) und Hölderlin (Christoph "Nops"
Noppeney) mit einem Violasolisten ausgerüstet. Im Bereich Elektro
und Avantgarde sind dies heute die Bands Violet Cab (mit Viola,
Live-Elektronik und Drums) und Experimental Audio Research, letztere
verbinden Minimalismus, Rockmusik, E-Viola und Improvisationsästhetik
miteinander. Freeway Philharmonic mit der Besetzung Viola, Bass,
Gitarre und Drums stehen für eine Mischung aus Jazz, Pop, Rock
und Klassik. Weitere Gruppen wie Diaspora, Garmana, Hands und Lily
of The Valley aus verschiedenen Regionen des Rockglobus haben oder
hatten auch die Bratsche dabei. Die Sängerin und Bratscherin
Mary Ramsey ist Mitglied des Duos John & Mary und der Band 10.000
Maniacs (Independent-Rock).
Der
Punkgitarrist und Bratschist Andy Moor spielte bei den Dog Faced
Hermans und The Ex, seine weiteren Projekte heißen Kletka
Red und Little Red Spiders. Weitere Künstler wie Ilene Novog,
Stuart Gordon, Chris Carmichael und Nell Catchpole erscheinen auf
den Werken vieler Pop-und Rockmusiker. Martie Seidel (Dixie Chicks)
und Ray Shulman (Gentle Giant) spielen überwiegend Geige und
haben die Viola nur auf je einem Album eingesetzt. Bekannte Bands
wie die Fehlfarben, Spock`s Beard und XTC haben ihre Musik auch
mit einer Bratsche angereichert. Weitere interessante Namen aus
Jazz, Folk und experimenteller Musik sind Paolo Botti, Leanne Darling,
Eric Golub, Charlotte Hug, Tanya Kalmanowitch, Mat Maneri,
Jen Clare Paulson, Anatol Stefanet, Mezei Szilard und Lev Zhurbin.
Hier soll es jedoch nur um John Cale gehen. Neben dem Geburtstag
(9. März 1942) gibt es noch ein neues Album von Cale (Circus
Live) sowie 40 Jahre eines Meisterwerks zu feiern: "The Velvet
Underground & Nico" erschien im März 1967. Und vor
20 Jahren gab es einen Toten zu beklagen: den Entdecker und Förderer
der Band Velvet Underground: Andy Warhol.
Was ist besonders an Cale?
Wer Jan Schüttes deutsch-polnische Filmproduktion "Der
Abschied" über einige der letzten Tage Bert Brechts (im
August 1956 in seinem Refugium am Buckower Schermützelsee)
im Kino oder Fernsehen sah, hat vielleicht die wenigen, schlanken,
wiederkehrenden Klavierthemen des Soundtracks bemerkt. Woher kommen
sie? Komponiert hat sie ein überaus vielseitiger Komponist,
Arrangeur, Songwriter, Sänger mit markantem, leicht nasalem
Bariton, Performer, Produzent und Musiker, sogar Autor, Lyriker,
Schauspieler und Model, der Keyboards sowie Gitarre und Bass bedient
und ....ja, natürlich, bekannt für sein elektrisches Bratschenspiel
ist: John Cale. Darüber hinaus hat er auf vielen Samplern als
Produzent, Musiker oder Sänger seine Spuren hinterlassen. Mitgewirkt
als Musiker hat er neben vielen anderen Produktionen bei Aufnahmen
von William Burroughs, Leonhard Cohen, Brian Eno, Nick Drake, Mike
Heron, Nico, The Replacements, Jack Smith, The Stooges, der einstigen
Weggefährtin Maureen Tucker und Suzanne Vega. Und er war natürlich
- siehe oben - Mitglied der Kultband Velvet Underground.
Die Liste seiner Produzententätigkeit ist sehr lang: Nicos
erste Alben, bei denen er auch als Musiker und Komponist aktiv war,
und in alphabetischer Reihenfolge Elements of Crime, Lio, Jesus
Lizard, Happy Mondays, Jonathan Richman and the Modern Lovers, Patti
Smith ("Horses"), Sham 69, Siouxsie an The Banshees, Squeeze,
The Stooges (bei beiden wie bei Patti Smith die hochgelobten Debütalben),
Jennifer Warnes, und, und, und... Es ist erstaunlich, dieser Mann
hat am 9. März 2002 sein 65. Lebensjahr vollendet.
Deutschland und speziell Berlin sind ihm nicht unbekannt, denn er
hat hier seit 1974 viele Konzerte absolviert, zwischen 2001 und
2006 ganze sechs: zuletzt im Dezember 2001 (solo) sowie im Juli
und November 2003 und dann im September 2005 und März 2006
(jeweils mit Band); dazwischen 2004 die multimediale Soloperformance
des Soundtracks zu "Process" im Haus der Kulturen der
Welt. Und er hat eine einst unbekannte, jetzt zu Kultstatus erlangte
Berliner Band, deren erstes Album nur 800 Anhänger fand, in
London für das Major-Label Polydor produziert und auf vier
Stücken Keyboards gespielt: Element of Crimes "Try to
be Mensch" von 1987, die zweite Langrille der Band. Leider
wird diese Produktionstätigkeit in Aufzählungen von Cales
Aktivitäten vehement (weil zu unbedeutend aus nichtdeutscher
Sicht?) verschwiegen. Interessantes Detail am Rande: Der Gitarrist
und Tontechniker David Young, der mit John Cale seit 1982 zusammen
spielt, wurde der Produzent, Tour- sowie Studiogitarrist und jetzt
auch noch Bassist von Element of Crime. In Berlin ist auch Nico
begraben und dort wohnt und arbeitet auch Lüül alias Lutz
Ulbrich, Gitarrist und Songschreiber mit interessanter Biografie,
Banjospieler bei den 17 Hippies und in den Siebzigerjahren Lebensgefährte
von Nico. Lüül hält losen Kontakt zu Cale, haben
er, Nico und Cale doch 1979 gemeinsam in New York gespielt. Und
eine Tote zu beklagen.
Wer ist Cale? Was hat er geleistet?
Geboren
wird Cale am 9. März 1942 in Garmant, Wales, als Sohn einer
einflussreichen Lehrerin und eines Bergmanns. John Cale beschreibt
seine Jugend im provinziellen Wales wesentlich geprägt von
der Dominanz der Mutter - und der Unfähigkeit, mit dem Vater
zu sprechen. Der spricht kein Walisisch, und Englisch lernt John
erst mit sieben. Er genießt eine klassische Ausbildung, beginnt
mit sieben Jahren das Klavier- und Violaspiel, spielt die Kirchenorgel
und im Alter von 13 Jahren die Viola im walisischen Jugendorchester.
Seine erste eigene Klavierkomposition, Toccata in the Style of Khachaturian
(ebenfalls mit 13 Jahren) wird beim BBC aufgenommen. Cale studiert
von 1961 bis 1963 am London Conservatory of Music ("Goldsmith
College") Komposition, Piano und Viola. Höhepunkte des
Jahres sind die jährlichen Weihnachtskonzerte. Dort werden
Cales Werke aufgeführt, er spielt im Streichquartett und im
Orchester als Stimmführer der Bratschen. Zu Weihnachten 1962
übernimmt er die Solostimme der Elegie für Solovioline,
Streichquartett und Streichorchester von Herbert Howells und tritt
beim schwierigen und obskuren Terzet von Holst auf, bei dem jeder
der drei Musiker in einer anderen Tonart spielt.
Die Leidenschaft Cales für Musik beschreibt auch eine Sehnsucht
nach Verständigung, die Kunst wird nicht zur Heimat, sondern
bleibt ein Fluchtpunkt. Ob im Jugendorchester, nachts am Radio (wo
er Rock ´n´ Roll, Skiffle und Jazz entdeckt) oder am
Konservatorium, wo er das erste Mal seine Lehrer befremdet, als
er zum Studienabschluss, im Sommer 1963, beim mitorganisierten "Little
Festival of New Music" ein Klavierkonzert im Knien mit den
Ellbogen gibt. Später nimmt er schon mal die Axt. Cale kommt
nach eigenen Angaben anfangs nie auf die Idee, selbst Rock ´n´
Roll-Musik zu spielen, sondern beschäftigt sich mit der klassischen
Avantgarde-Musik sowie mit elektronischer Musik und Performances
des britischen Komponisten Humphrey Searle. Cales Lehrer Cornelius
Cardew bringt ihm John Cage, La Monte Young und andere amerikanische
Komponisten näher.
Cale ist von Selbsthass geplagt, aber mit einem Leonard-Bernstein-Stipendium
in den USA ausgerüstet, vermittelt von dem bekannten amerikanischen
Komponisten Aaron Copland, den er in London hartnäckig bearbeitet,
um den großen Teich zu überqueren. Cale kann im Sommer
1963 bei Iannis Xenakis moderne Komposition am Eastman Conservatory
in Tanglewood studieren. Das ist ein Jugendtraum, obwohl Aaron Copland
Cales Spielweise später für destruktiv hält, um die
institutseigenen Instrumente fürchtet und den Traum beendet.
Mit dem Avantgarde-Komponisten und (Fast-) Namensvetter John Cage
führt Cale ein Pianowerk Saties (Vexations) auf, dessen Hauptthema,
bestehend aus 180 Noten, von 13 Pianisten in 18 Stunden 840 mal
wiederholt wird. Nach dem kurzen Zwischenspiel in Tanglewood fährt
Cale nach New York. Mit Entschlossenheit steigt Cale dann von der
Avantgarde immer weiter in den New Yorker Underground. Einen entscheidenden
Einfluss übt der Komponist La Monte Young aus, den Cale in
New York aufsucht.
Der legendäre Minimalist, dessen Arbeit kaum dokumentiert ist,
experimentiert mit seiner Frau, mit Cale und dem Violinisten Tony
Conrad in der Gruppe Dream Syndicate bzw. Theater of Eternal Music.
Hier hört man zum ersten Mal Cales charakteristisches Viola-Dröhnen,
das später durch den Sound der Formation klingen sollte, die
John Cales Ruhm begründete und sein Ego bis heute verstört:
The Velvet Underground. Für einen spezifischen, metallischen
Sound wie ein Düsenjet bespannt Cale seine Viola mit Gitarrensaiten,
feilt den Steg gerade, um drei Saiten gleichzeitig spielen zu können
und stimmt sie z. T. auf ungewöhnliche Weise. Auf Konzerten
spielen The Dream Syndicate Stücke, die aus einzelnen, lang
anhaltenden Tönen bestanden, die über Stunden ununterbrochen
gespielt wurden. Damit erprobt Cale die monotone und minimalistische
Spielweise. Selten sind Cales Erinnerungen so unbeschwert wie in
den frühen New Yorker Tagen, mit leichten Drogen von La Monte
Young, "dem besten Dealer der Avantgarde": "Wir gründeten
The Dream Syndicate, das aus zwei verstärkten Stimmen, eine
verstärkte Geige und meine verstärkte Viola bestand. Das
Konzept der Gruppe war, Noten bis zu einer Länge von zwei Stunden
zu halten. La Monte hielt die tiefsten Noten, ich hielt die nächsten
drei auf meiner Viola, seine Frau Marian hielt die nächste
Note und Tony Conrad hielt die höchste Note. Das war meine
erste Gruppenerfahrung, und was es für eine Erfahrung war!"
Anfang
1965 findet Cale dann zur Rockmusik, als er Lou Reed kennen lernt.
Der ist Songwriter beim Label Pickwick. Dort werden auch Aufnahmen
von Studiomusikern zusammengestellt und mit Fantasienamen auf den
Markt geworfen. Eine dieser Gruppen sind die "Primitives",
und diese sollen mit einer potentiellen Hitsingle (The Ostrich)
bekannt werden. Um die Single zu promoten, muss nun eine in dieser
Zeit wird er wohl zum ersten Mal zu Gitarre und Bass gegriffen haben.
Cales Kenntnisse über serielle Formen der Musik bilden den
Grundstein für den ganz eigenen, anderen und damals fast revolutionären
Sound der Velvet Underground. Cale kommt zwar von der Klassik, erkennt
aber in Lou Reed und dessen Songs einen, der ihm auf eine anspruchsvolle
Art das große Gebiet des Rock ´n´ Roll näher
bringen konnte und mit dem er seine eigene Musikvorstellung verwirklichen
konnte. Cale ist jedoch nicht nur auf die Viola beschränkt,
sondern spielt bei Velvet Underground abwechselnd auch Klavier,
Orgel und Bass. Der Pop Art-Papst Andy Warhol engagiert die Band,
die sich 1965 in Syracuse, New Jersey als The Falling Spikes (später:
The Warlocks) gegründet hat, für seine Multi-Media-Show
"The Exploding Plastic Inevitable", die ab April 1966
im "Dom" (polnisch für Haus) auf der New Yorker Lower
East Side und danach in anderen amerikanischen Städten gezeigt
wurde. Die Freundschaft mit Andy Warhol ist eine der wenigen dauerhaft
freundlichen Erlebnisse in Cales Leben. Immer wieder kreuzen sich
ihre Wege, auch nachdem Lou Reed Warhol als Manager von Velvet Underground
absetzt. Zur Band gehören neben Cale und Reed (Gesang und Gitarre)
auch Sterling Morrison, späterer Literaturdozent (Gitarre,
Bass), und Maureen ("Mo") Tucker, damals die erste Schlagzeugerin
einer Starband. Spielt Cale nicht Bass, dann muss Morisson als Kompromisslösung
das für ihn verhasste Instrument spielen. Es gibt keine feste
Besetzung, bisweilen Chaos auf der Bühne, und auch Moe Tucker
muss mal den Bass zupfen. Vollständige Liveaufnahmen aus der
ersten Zeit der Epoche machenden Band mit John Cale sind unglücklicherweise
nicht vorhanden.
Nico alias Christa Päffgen aus Deutschland, geboren 1938, Ex-Model,
Schauspielerin (eine Rolle in "La Dolce Vita"), Sängerin
(eine gefloppte Single im Jahr 1965, produziert von Jimmy Page),
damals Superstar der Warholschen Film-Factory, hilft der Band seit
1966 als distanzierte Sängerin mit einem unvergleichlichen
leeren, dunklen, morbiden Gesangsstil. Ihre Versuche, der Band Bob
Dylan näher zu bringen, scheitern. Sie hassen die "Folkies"
und Dylan, orientierten sich an Gitarrenbands oder haben schlicht
keine Vorbilder. Auch andere von ihr ausgewählte Stücke
werden abgelehnt. Ihr Anteil an der ersten LP, die 1966 aufgenommen
wurde, ist leider nur gering, es werden ihr nur drei Reed-Stücke
zugebilligt (Femme Fatale, All Tomorrow`s Parties, I`ll Be your
Mirror). Mehr Raum will ihr der egozentrische Lou Reed nicht lassen,
auf der Bühne speist er sie oft mit dem Tambourin ab. Das wird
auch in dem Warhol-Film "Velvet Underground & Nico"
(1966) deutlich, eine einstündige Dokumentation der Gruppe
mit einem improvisierten Stück und Cale an Bratsche, Bass und
einem selbst gebastelten Instrument mit Stahlfedern. Nico hat jedoch
im "Dom" die Gelegenheit, ab Ende 1966 ein Soloprogramm
(mit wechselnder Gitarrenbegleitung) aufzuführen. Häufiger
Begleiter war Jackson Browne, ein erst 16jähriges Wunderkind,
mit dem Nico damals zusammen lebte. Mit dabei Cales erste eigene
Rockkomposition (Winter Song) und ein Song, den er mit Lou Reed
schreibt, ein Reed-Song sowie ein Song, den Lou Reed und Sterling
Morrison verfasst haben (Chelsea Girls). It Was a Pleasure Then
ist ein Gemeinschaftwerk von Nico, Cale und Reed, in dieser Besetzung
(Cale an der Bratsche, Reed an der Gitarre) aufgenommen, und hebt
sich damit vom Rest der Aufnahmen ab. Nico hatte die Gelegenheit,
diese Stücke für ihre erste LP ("Chelsea Girl")
aufzunehmen. Dazu kam das Stück I´ll Keep it with Mine,
das ihr Bob Dylan nach einer kurzen Affaire in Paris vermacht (und
Velvet Underground partout nicht spielen wollen und können,
s.o.) und Stücke von Jackson Browne, der den Gitarrenpart übernimmt,
sowie ein Stück von Tim Hardin. Das Album wird von Tom Wilson
produziert, der schon beim ersten Velvet Underground-Album im Hintergrund
operiert und auch das zweite produziert. Im Mai 1967 verläßt
Nico endgültig die Band (nach dem auch die Show "The Exploding
Plastic Inevitable" ein Ende findet und die Zusammenarbeit
mit dem großen Mentor Warhol im Sande verlief), behält
jedoch in John Cale einen musikalischen Freund, Mentor und Unterstützer,
der Nicos erste eigene Stücke auf die Beine helfen wird. Cale
nimmt auch einen großen Platz in der bekannten Nico-Dokumentation
"Nico-Icon" ein.
Cale ist auf den Alben "Velvet Underground & Nico"
(das Album kommt im März 1967 auf den Markt, das Erscheinen
verzögerte sich) und "White Light/White Heat" (Januar
1968) zu hören. Gemessen an dem Ruf als furioser elektrischer
Bratscher ist die Zahl der mit Velvet Underground aufgenommenen
Titel mit Bratsche eher gering: Auf Sunday Morning, Venus in Furs,
Heroin und The Black Angel`s Death Song vom ersten Album spielt
Cale Bratsche. Auf dem zweiten Album sind nur zwei Titel mit Bratsche
dabei: Lady Godiva`s Operation und Here She Comes Now. Bei beiden
Titeln bleibt Cale stark im Hintergrund, sein kompositorischer Anteil
und sein Instrumentalspiel (Orgel, Bass) sind auf dem Album jedoch
sehr prägend.
Interessant sind die beiden Titel Stephanie Says und Hey Mr. Rain
(Version I und II) mit starkem solistischem Einsatz. Beide Titel
wurden erst später veröffentlicht und erschienen nicht
auf den regulären Alben. Weitere Titel sind nicht auf Platte
gebannt.
Der Name der Band ist Synonym für die verruchte Seite der Rockmusik,
für Drogen und Sex, Lärm und Gewalt. Im Zentrum stehen
mit Cale und Lou Reed zwei genialische Exzentriker, deren Grossmäuligkeit
ihrer Brillanz kaum nachstand. Der geniale Lärm, von dem die
Zuschauer stets übermannt wurden, lässt sich auf dem ersten
Album kaum einfangen. Wer z.B. European Son, das letzte Stück
des ersten Albums mit der berühmten abziehbaren Warhol-Banane,
hört, der wird davon überzeugt, dass es Punk schon zehn
Jahre vor der offiziellen Zeitrechnung gab, nur hat keiner ein Wort
dafür gefunden.
In seiner Autobiografie "What's Welsh for Zen", erschienen
1999, bemüht sich Cale mit gewissem Erfolg, die Spur geteilter
Nadeln und Frauen, Ästhetik und Ideen objektiv zu schildern.
Die Beziehung zwischen ihm und Reed wirkt symbiotisch, man hält
sie fälschlich für ein Liebespaar. Tatsächlich, mutmaßt
Cale bescheiden, war seine sexuelle Verweigerung womöglich
ein Grund für Reed, den Freund und Katalysator aus der Band
zu mobben. Cales kompositorischer Anteil an den Velvet Underground-Stücken
ist größer, als es auf den Plattenhüllen dokumentiert
ist. Cale macht von Beginn an Reeds Egomanie für Streitereien
und Enttäuschungen verantwortlich, bis hin zu den letzten Gemeinschaftsarbeiten,
dem mit Lob bedachten Warhol-Requiem "Songs for Drella"
(1990) und der Velvet-Underground-Reunion von 1993.
Die Solojahre
Der
Rausschmiss Cales im Oktober 1968 (nachdem Reed die anderen Mitglieder
auf seine Seite gebracht hat) wird für ihn eine zentrale traumatische
Erfahrung. Dafür bekommt er aber am gleichen Tag einen Vertrag
von Columbia für zwei Alben und erhält dabei freie Hand
für die Verbindung zwischen Klassik und Rockmusik. Viele Verträge
und Plattenlabel werden folgen.
Fortan vergießt er sein Herzblut in den Soloarbeiten, produziert
heute Legendäres von The Stooges (1969), Nico (1971) oder Patti
Smith (1976) und Squeeze (1977), aber die wirklich beunruhigende
Energie konzentriert er in seine Liveauftritte als Sänger,
Gitarrist, Bassist und Pianist. Er gilt aufgrund seiner künstlerischen
Unbestechlichkeit als geistiger Führer. Sein erstes Album nimmt
er 1969 auf ("Vintage Violence"), es erscheint erst 1970
und zeigt sein gutes Händchen für bemerkenswert schöne
und eigenständige Melodien.
Es folgt eine Kollaboration mit dem Komponisten Terry Riley (geboren
1935), Riley spielt auf der Aufnahme Klavier, Orgel und Sopransaxophon,
das gemeinsame Werk heißt "Church of Anthrax" und
erscheint 1971. Riley ist wie Philip Glass und Steve Reich ein Propagandist
einer minimalistischen Komponiertechnik und Spielweise in der modernen
Avantgardemusik. Bekannt ist sein Stück In C (1970), in dem
er ein Ensemble aus Blasinstrumentalisten, Viola-, Marimba- und
Vibraphonspielern 53 musikalische Fragmente über einem gleich
bleibenden Pianopuls frei variieren lässt.
Seine Songs in dieser Zeit sind die besten, die er zu Papier bringt,
überirdische Perlen, viel eleganter als alles, was von Lou
Reed kommt: Christmas in Wales, Close Watch, Paris 1919, Hanky Panky
Nohow, Ship of Fools, Buffalo Ballet.... Songs aus dieser Zeit werden
auch von Künstlern gecovert. Seine Einspielungen hatten die
"Qualität Hitchcockscher Mysterien": "Church
of Anthrax" "vereint klassische Erinnerungen, aktuelle
Rock-Gegenwart, und elektronische Zukunft zu raffinierten Essays
musikalischer Universalität", "The Academy In Peril"
(1972) "arrangiert die musikalische Geschichte Englands als
konfusen Witz für Eingeweihte", "Paris 1919"
(1973) verzerrt "die gesamte europäische Hochkultur durch
eine dadaistisch-surrealistische Perspektive", "Fear"
(1974) schreckt als "Abenteuer-Trip in die Nachtschatten-Welt
eines Vierziger-Jahre-Films der schwarzen Serie".
Andy
Warhol gestaltet das Cover der LP "The Academy in Peril"
(1972), dafür hat John Cale Warhol den Song "Days of Steam"
für dessen Film "Steam" zur Verfügung gestellt.
Für das Cover von "Honi Soit" (1981) liefert Warhol
die Idee.
Sonne scheint auch zu Beginn von Cales Solokarriere in Los Angeles
ab 1973, die er als Talentscout für Warner Bros. finanziell
fundieren kann. Hier trifft er die Studio-Elite der Westküste.
Kalifornien, das heisst auch für Cale schnelle Autos, schneller
Erfolg und schnelle Drogen. Privat tut sich jedoch bald ein weiterer
Abgrund auf - neben drogeninduzierter Nachlässigkeiten vor
allem in Form einer desaströsen Ehe mit einer Musikerin der
von Frank Zappa protegierten Frauenband GTO. Es folgen der Umzug
nach London, zwischen 1974 und 1975 drei gute, teilweise improvisierte,
jedoch nicht erfolgreiche Platten auf dem Island-Label ("Fear",
"Helen of Troy", "Slow Dazzle").
Während er sich die musikalischen Theorien aus dem klassischen
Avantgardebereich holt, nutzt er, wie ein rockender Antonin Artaud,
die Unmittelbarkeit des Populären. Ab einem bestimmten Punkt
hält er die Performance für das "Wichtigste, was
ich bis dahin getan habe." Die Initiation ist ein Auftritt
in England mit Kevin Ayers (Soft Machine), Nico und dem exaltierten
Roxy Music-Keyboarder Brian Eno, veröffentlicht unter dem Datum
"June 1 1974", darauf Cales unvermeidliches, zum Standard
gewordene Fassung von "Heartbreak Hotel" mit dem verzweifelten
Gebrüll am Ende. Eno ist auf einigen Cale-Alben zwischen 1974
und 1989 vertreten und spielt mit Cale live auf der Bühne.
Cale erscheint dafür auf zwei Alben von Eno.
Konzerte mit wechselnden Bandmitgliedern, ein paar verwüstete
Bekanntschaften, und Cale kehrt 1975 ausgebrannt zurück nach
New York. Krieg, Aggression, Zerstörung werden seine bevorzugten
Metaphern. Das Publikum zu überrumpeln und zu konfrontieren,
wird zur Therapie für seine Zerstörungswut, die sich im
wirklichen Leben meist gegen ihn selbst richtet. Berüchtigt
ist Cale jedoch mehr für die symbolischen Attacken aufs Publikum:
vor allem für Verdunkelungsmanöver, für die gewalttätige
Aura der Eishockeymaske etwa, die er bei Konzerten trägt, für
das öffentlich ins Auditorium geköpfte Huhn in Croydon,
1976 (das jedoch schon vorher getötet wurde), mit dem er selbst
die anwesenden Punks schockierte. "Kein Mitleid mit dem Huhn",
sagt er heute.
"Eine Produktion", schreibt Cale, "ist erst komplett,
wenn man sie auf Tour bringt und auf ein Publikum loslässt."
Solcherlei Apodiktik, mit der er sich auch immer wieder seiner Rolle
in den verschiedenen Partnerschaften versichert, zielt natürlich
auch auf den "geschmacklosen Velvet-Kult", der den Blick
auf seine eigene Musik verstellt.
Zwischen 1976 und 1980 erscheinen außer "Sabotage Live"
(unveröffentlichtes Livematerial aus dieser Zeit) und einer
EP mit drei Stücken, keine Aufnahmen, nur eine, nicht von Cale
selbst verantwortete, Zusammenstellung namens "Guts",
die einen Überblick des Schaffens der Siebzigerjahre gibt.
"Honi Soit" aus dem Jahr 1981 kommt wieder frisch daher,
in Rockbandbesetzung. Cale scheint die Errungenschaften der letzten
Jahre (Punk) zu filtern, und vermischt sie mit Rock und New Wave.
Riverbank ist wieder einer dieser klassischen Cale-Balladen für
die Ewigkeit, Bestandteil seiner Soloabende.
"Music For A New Society" (1982), überwiegend solo
aufgenommen, paralysiert als "Meisterwerk zum Puls-Aufschlitzen".
"Music for a new Society" wird das am meisten gelobte
Soloalbum bis dahin, ein kommerzieller Erfolg stellt sich jedoch
wie bei den Vorgängern nicht ein. "Music for a New Society"
ist freudianisch. Quälend ist das richtige Wort. Alle Figuren
in den Liedern haben etwas verloren. Unglücklicherweise endet
es für die Hauptfiguren immer in der Isolation. Die Stücke
zu singen war für mich wie Method Acting."
"Caribbean Sunset" (1984), mit neuer Band und leider ein
vollkommener Flop, gefolgt vom zweiten Live-Album "Cale Comes
Alive" im gleichen Jahr, sitzt "wie die Pistole auf der
Brust", "Artificial Intelligence" (1985) überraschte
als "Werk eines Humanisten mit der Freude am Skizzieren von
Miniaturen." Cale sah sich in seinem Metier fehl am Platz:
"Ich habe im Rock ´n´ Roll nichts verloren. Ich
muß immer wieder darauf hinweisen, daß ich ein klassischer
Komponist bin, der seine musikalische Persönlichkeit damit
verludert, im Rock`n`Roll zu dilettieren." Sollte es eine Rückkehr
zur Klassik geben, "dann möchte ich wie Schostakowitsch
dastehen. Wenn die Zukunft der klassischen Musik jedoch in den Händen
von John Cale liegt, dann gnade uns Gott." John Cales Musik
lebt vom Nebeneinander E-musikalischer Avantgarde und Popmusik.
Sein Werk ist geprägt von Motiven des Kunstlieds, orchestralen
Collagen, Film- und Balettmusiken und kathartischen Rock-Zornesorgien.
Keiner weiß, was Cale auf dem nächsten Album macht und
ist dann immer wieder überrascht. Durch diesen Zick-Zack-Kurs
wird viel über den Mensch "Cale" ausgesagt: Innerlich
zerrissen, kaum interessiert an Erfolg und Kontinuität, und
Dann geht die Leber kaputt, seine eigene und auch die von Lou Reed,
und es sterben die Leute: sein Vater, der in der Autobiographie
"eine leere Seite" bleibt, schon 1983, Warhol (1987),
Nico (1988), die Mutter (1990).
Mitte der Achtzigerjahre scheint ihn die Geburt seiner Tochter Eden
zu retten, auch nach der wieder unvermeidlichen Trennung von deren
Mutter Risé. Er macht eine Entziehungskur, treibt besessen
Sport, um seinen Körper jung zu halten, freut sich an Designerzwirn
und stürzt sich in die Arbeit. Auch die verkorkste Velvet Underground-Reunion
wirft ihn nicht nachhaltig aus der Bahn. "Ich habe im Moment
die positivste und erfolgreichste Zeit meines Lebens", schreibt
er. Er möchte dem Rockzirkus den Rücken kehren: "Ich
habe versucht, ein Rockstar zu sein; daran bin ich nicht mehr interessiert.
Glücklicherweise." "Gott weiß, warum ich nicht
tun kann, was Brian Eno oder Lou Reed machen; und sie nicht das,
was ich mache."
1989 kommt die zusammen mit Brian Eno produzierte "Words for
the Dying" mit dem viersätzigen symphonischen "Falkland
Suite" mit Texten von Dylan Thomas heraus. Die Zusammenarbeit
endet 1990 nach dem gemeinsamen Popalbum "Wrong Way up",
auf dem sich auch das eingängige Spinning Away befindet. Dieser
Song wurde fast unverändert von der Gruppe Sugar Ray aufgenommen
und im Jahr 2000 mit dem Soundtrack zum Film "The Beach"
mit Di Caprio zum Hit gemacht.
Die Neunzigerjahre bringen zunächst einen kreativen Schub (Songs
for Drella, Auftritte, Zusammenstellung von Samplern, die sechswöchige
Velvet Underground-Reunion mit Europa-Tour im Juni und Juli 1993
mit Live-CD und Filmmusiken für französische Underground-Filme).
Nach der Velvet-Tour ist dann aber endgültig die Luft aus der
langjährigen Freundschaft und Kollaboration Cale/Reed. Eine
US-Tour, ein Album und ein MTV-Unplugged-Album hätten folgen
sollen, Reed will Produktion und Management an sich reißen
und sieht den Rest der Band als pure Begleitung. Sterling Morrison
stirbt 1995, ihm ist die Autobiographie gewidmet. Immerhin ist die
mediokre Livedokumentation, zusammengesetzt aus drei Konzerten in
Paris, eine vollständig zu nennende Velvet Underground-Bühnen-Werkschau
mit John Cale an Viola, Bass und Keyboards mit einer Auswahl an
Songs, wie sie wohl 26 Jahre früher auf der Bühne gespielt
wurden, jedoch auch solche, die erst nach der Cale-Zeit entstanden.
1996 hat der "Rockstar" mit "Walking on Locusts"
nach langer Zeit wieder ein poppiges Rockalbum geschaffen, ein eingängiges
Album mit potentiellen Hits (z.B. Dancing Underwater), sehr homogen,
auch mit countryhaftem Charakter durch Steelguitar oder Weltmusikanklängen.
Fast klingt er wie die Talking Heads in ihrer Endphase, und David
Byrne spielt bei einem Stück tatsächlich Gitarre und ist
Koautor. Die Streichersoli- und Begleitungen stammen vom Soldier
String Quartet.
Der walisische Eigenbrötler schuf die Musik zum multimedialen
Spektakel "Life Underwater" und Songs zu den Filmen "Basquiat",
"Eat/Kiss", "I shot Andy Warhol", "American
Psycho" und auch wieder den Ton für weitere französische
Filme. Im Mai 2000 wurde er Ehrendoktor der belgischen Universität
Antwerpen.
Eine 1992 erschienene Aufnahme eines Soloauftritts mit Gitarre und
Klavier und einem gewaltigen Überblick über sein Songschaffen
nennt er "Fragments of a Rainy Season". In ihrem Lauf
durch die Jahrzehnte wirkt sie wie eine autobiografische Herbstreise.
"What's Welsh for Zen" funktioniert ähnlich, eben
nicht nur gelebt, sondern auch komponiert. In der Einleitung heisst
es: "Each piece in the book in a sense might be like a song
in that its short, sweet, satisfying, amusing, informative and cool
(and hip)."
Das Buch ist keine Abrechnung und auch kein Klatschbuch. Zu heftig
ist die Selbstkritik, zu düster sind meist die Skandale um
Sex, Drogen und andere Exzesse. "Während ich das Buch
schreibe, werde ich trauriger und trauriger. Ich finde keine Selbsterkenntnis,
nicht die geringste Selbstachtung und keine Vision", heisst
es einmal in einer Passage zu den Achtzigerjahren. Auch in seinem
Buch ist Cale wie in den Songs ein guter Erzähler, der sich
der Stimmungen, die er vermittelt, sicher ist.
Im Juni und Juli 2003 geht Cale tatsächlich wieder mit einer
(jungen) Rockband auf Tour und kommt auch nach Deutschland. Ende
Mai 2003 erscheint als Vorgeschmack zunächst eine Mini-CD "Five
Tracks" (mit lediglich fünf neuen Stücken eine Vorsichtmaßnahme
des neuen Labels, die gute, alte Tante EMI?) Nein, im Herbst 2003
folgt eine komplette CD, "Hobo Sapiens", die wie "Five
Tracks" von Cales elektronischen Samples lebt. Es ist auch
endlich wieder die Viola, die in den Neunzigerjahren oft im Koffer
bleiben musst, zu hören, auch eine elektrische. Nur zwei Jahre
später wird "Black Acetate" nachgelegt, eine Anspielung
auf alte Plattenpressungen auf schwarzem Azetat, vielleicht aber
auch auf den "schwarzen", modernen "Dance-Sound".
Die Band wurde jedenfalls ausgewechselt, es ist diesmal sehr rockig
und groovig, und unter den Gitarren befinden sich auch Cales sechs
Saiten, auf die er eindrischt. 2007 erscheint mit "Circus Live"
eine Rückschau auf die jüngsten Auftritte.
Wie
spielt Cale Bratsche?
Cales
Bratschenspiel ist nicht lässt sich in mehrere unterschiedliche
Stile aufteilen: Als Beispiel für sein Bratschenspiel bei Velvet
Underground können Heroin (Lou Reed) sowie der Song The Black
Angel`s Death Song (Cale/Reed), beide vom ersten Album und beide
Beispiel für den typischen eintönigen, minimalistischen
"Bordunstil", dienen. Bei Heroin mündet die repetative
Spielweise jedoch in ein wüstes Solo, sehr ungewöhnlich
und aufwühlend für die Zeit, wie alles bei Velvet Underground.
Oft wurde auch von "elektronische Splitterbomben" geredet,
die Cale bei Velvet Underground-Konzerten abgeworfen hat. Wall,
ein Violasolo (kommt von den Aufnahmen zum ersten Soloalbum (Vintage
Violence) und kam erst bei der Neuauflage auf die CD, steht noch
für Cales avantgardistischen, minimalistischen Stil. Später
übernimmt die Bratsche auch mal die Melodiestimme (siehe Days
of Steam vom Instrumentalalbum "The Academy in Peril").
The Streets of Laredo vom Album "Honi Soit" ist eine ungewöhnliche
Version eines amerikanischen traditionals, mit schöner melancholischer
Soloviola. Daneben gibt es kurze Soli und viele Bratschenstimmen,
die eher konventionell daherkommen und das Stück durchgehend
begleiten (z.B. Stephanie Says, Sylvia Said). Kunstliedhaft wurde
es, als er 1970 mit Nico an "Desertshore" arbeitete, er
arrangierte die Instrumente um Nicos Gesang und Harmonium herum.
"Afraid" wirkt mit Gesang, Klavier und Bratsche fast wie
aus einem vergangenen Jahrhundert.
Von 1973 bis 1989 rückt die Bratsche bei Cale eher in den Hintergrund.
Gitarre, Baß und Keyboards sind seine häufigsten Begleiter.
Violabegleitungen von Cale hört man überwiegend auf Werken
anderer Künstler. Erst 1990, mit den "Songs for Drella",
die auch an alte Zeiten erinnern, wird Cale nostalgisch und setzt
die Bratsche viermal, mit vielen Reminiszenzen an den Spielstil
bei Velvet Underground ein. Natürlich ist die Bratsche auch
beim Velvet Underground-Revival 1993 dabei. Auf den Alben "Hobo
Sapiens" (2003) und "Black Acetate" (2005) wird sie
öfter eingesetzt. Live setzt er (die elektrische) Viola leider
nur bei Venus in Furs ein, seine Bühnenhommage an Nico.
Die
folgenden zwei Aufstellungen sollen die Spuren, die Cale mit seiner
Bratsche bei Velvet Underground, bei seinen Soloalben und bei anderen
Künstlern hinterlassen hat, dokumentieren. Danach folgt eine
vollständige Diskographie.
Sven-Martin
Nielsen - März 2007
John
Cales Viola auf den Alben von Velvet Underground und seinen Soloalben
Album
Jahr
Stücke
Bemerkungen
The Velvet Underground & Nico
1967
Sunday Morning, Venus in Furs, Heroin, The Black Angel`s Death Song
Mit Velvet Underground
White Light/White Heat
1968
Lady Godiva`s Operation, Here She Comes Now
Mit Velvet Underground
VU
1984
Stephanie Says
Mit Velvet Underground, später veröffentlichtes Stück
Another View
1986
Hey Mr. Rain (Version I und II)
Mit Velvet Underground, später veröffentlichte Stücke
Live MCMXCIII
1993
Venus in Furs, Hey Mr. Rain, Black Angel´s Death Song, Heroin,
Pale Blue Eyes
Mit Velvet Underground
Vintage Violence
1970
Gideon´s Bible, Wall (Outtake)
Wall befindet sich auf der CD-Version
Church of Anthrax (mit Terry Riley)
1971
Church of Anthrax
The Academy in Peril
1972
The Philosopher, Legs Harry at Television Centre (Violaduett), Days
of Steam, King Harry
Paris 1919
1973
Hanky Panky Nohow
Paris 1919 (Remaster-CD)
1973/
2006
Hanky Panky Nohow, Hanky Panky Nohow (Drone Mix)
CD mit Bonustiteln
Caged
Heat (Soundtrack)
1974
Soundtrack besteht aus improvisierter Violastimme mit Gitarren-
und Mundharmonikabegleitung
Soundtrack zum Film von Roger Corman, als Bootleg veröffentlicht
Fear
1974
Barracuda
The Man Who Couldn`t Afford to Orgy (Single)
1974
Sylvia Said (B-Seite)
Findet sich auch auf der 2-CD-Box The Island Years
June 1st 1974 (mit Kevin Ayers, Brian Eno und Nico)
1974
Two Goes into Four (Gesang: Kevin Ayers), Driving Me Backwards (Gesang:
Brian Eno)
Songs von Kevin Ayers bzw. Brian Eno
Animal Justice (EP)
1977
Memphis
Chuck-Berry-Song
Sabotage (Live)
1979
Only Time Will Tell
Gesang: Deerfrance
Honi Soit
1981
Streets of Laredo
Amerikanischer Traditional-Song
Music for a new Society
1982
Chinese Envoy
Carribean Sunset
1984
Carribean Sunset
John Cale Comes Alive (Live)
1984
Never Give up on You
Kurzes Solo, Studioaufnahme
Even Cowgirls Get The Blues
1987
Dance of the Seven Veils
Livealbum 1978/79
Songs for Drella (mit Lou Reed)
1990
Style it Takes, Images, A Dream, Hello it`s Me
Wrong Way Up (mit Brian Eno)
1990
Cordoba, Spinning away
Paris S'Eveille
1991
Antarctica Starts Here
Neuaufnahme des Stückes von 1973
Last Day on Earth (mit Bob Neuwirth)
1994
Pastoral Angst, Instrumental
Dream Interpretation: Inside the Dream Syndicate Vol. II
2001
Dream Interpretation, A Midnight Rain of Green Wrens at the World`s
Tallest Building
Mit Tony Conrad (zwischen 1962 und 1964 aufgenommen)
Stainless Gamelan: Inside the Dream Syndicate Vol. III
2001
At About this Time Mozart was Dead And Joseph Conrad Was Sailing
the Seven Seas Learning English, Big Apple Express
Mit Sterling Morrison (1967) bzw. solo (1965) mit Tape
Five Tracks
2003
Verses, Chumps of Dumpty (we all are)
Mini-CD
Hobo Sapiens
2003
Set Me Free, Look Horizon, Magritte, Caravan
Set Me Free ist ein Hidden Track und eine Neuaufnahme
eines Stückes von 1996
Le Bataclan `72 (mit Nico und Lou Reed)
2003
The Black Angel`s Death Song, Heroin, No One is There, Frozen Warnings,
Pale Blue Eyes
Liveaufnahme aus dem Jahr 1972
Black Acetate
2005
Satisfied, Mailman (TheLyingSong)
Circus Live
2007
Venus in Furs
John
Cales Viola auf den Alben anderer Künstler
Künstler
Album
Jahr
Stücke
Bemerkungen
Nico
Chelsea Girl
1966
It Was a Pleasure Then
Acht Minuten lang!
Nico
Marble Index
1969
No One is There, Julius Caesar (Momento Hodie), Frozen Warnings,
Evening of Light
Nico
Desertshore
1970
Abschied, Afraid, All That is My Own
Earth Opera
The Great American Eagle Tragedy
1969
The Great American Eagle Tragedy
The Stooges
The Stooges
1969
We Will Fall
Über 10 Minuten lang!
Nick Drake
Bryter Layter
1970
Fly
Glass Harp
Glass Harp
1970
Stücke nicht bekannt
Mike Heron
Smiling Men with Bad Reputations
1971
Warm Heart Pastry
Tax Free
Tax Free
1971
Back By the Quinnipiac, All along the Shadowed Quay
Geoff Muldaur
Having a Wonderful Time
1975
Higher and Higher
Brian Eno
Another Green World
1975
Sky Saw, Golden Hours
Brian Eno
Music for Films
1978
Patrolling Wire Borders
The Replacements
All Shook Down
1990
Sadly Beautiful
Maureen Tucker
I Spent a Week There the Other Night
1991
(And) Then He Kissed Me, I´m Not
Velvet Underground-Besetzung
Maids of Gravity
The First Second
1996
Stücke nicht bekannt
Jack Smith
Les Evening Gowns Damnes
1998
Cold Stary Night
Mit Tony Conrad (zwischen 1962 und 1964 aufgenommen)
Jack Smith
Silent Shadows on Cimaroc Island
1999
Silent Shadows on Cimaroc Island
Mit Tony Conrad (zwischen 1962 und 1964 aufgenommen)
The Dream Syndicate
Day of Niagara: Inside the Dream Syndicate Vol. I
2001
Ein zusammen-hängendes Stück, aufgenommen am 25. April
1965
Mit Tony Conrad, Angus McLise, La Monte Young und Marian Zazeela
Diskographie
(ohne Singles und Sampler, mit Label und Erscheinungsjahr)
·
"The Velvet Underground & Nico" (mit Velvet Underground,
Verve, 1967)
· "White
Light/White Heat" (mit Velvet Underground, Verve, 1968)
· "Vintage Violence" (Columbia, 1970)· "The
Church of Anthrax" (mit Terry Riley, Columbia, 1971)
· "The Academy in Peril" (Reprise, 1972)
· "Paris 1919" (Reprise, 1973 und 2006)
· "Fear" (Island, 1974) · "June 1 1974"
(mit Kevin Ayers, Brian Eno und Nico, Island, 1974)
· "Slow Dazzle" (Island, 1975)
· "Helen of Troy" (Island, 1975)
· "Sabotage Live" (Spy, 1979, Livealbum)
· "Honi Soit" (A&M, 1981)· "Music
for a New Society" (Ze, 1983)
· "Carribean Sunset" (Ze, 1984)· "John
Cale Comes Alive" (Ze, 1984)
· "VU" (mit Velvet Underground, Verve, 1984, unveröffentlichtes
Material)
· "Artificial Intelligence" (Beggars Banquet, 1985)
· "Another View" (mit Velvet Underground, Verve,
1986, unveröffentlichtes Material)
· "Words for the Dying" (Opal, 1989)
· "Wrong Way Up" (mit Brian Eno, Opal, 1990)
· "Songs for Drella" (mit Lou Reed, Sire, 1990)
· "Paris S'Eveille" (Les Disques du Crespuscules,
1991, Soundtrack, Ballettmusik und andere Stücke)
· "Even Cowgirls Get The Blues" (Special Stock,
1987, Liveaufnahmen 1978)
· "Fragments for a Rainy Season" (Hannibal, 1992,
Livealbum)
· "Cale Street" (Great Dane Records, 1992, Live
in Hamburg 1983)
· "Live MCMXCIII" (mit Velvet Underground, Columbia,
1993, Livealbum)
· "3 Solo Pieces for La naissance de L'Amour" (Les
Disques du Crespuscules, 1993, Soundtrack)
· "Last Day on Earth" (mit Bobby Neuwirth, MCA,
1994)
· "N'Oublier Pas Que Tu Vas Mourir" (Les Disques
du Crespuscules, 1995, Soundtrack)
· "Antartida" (Les Disques du Crespuscules, 1995,
Soundtrack)
· "Basquiat (Universal, 1996, Soundtrack)
· "Walking on Locusts" (Hannibal, 1996)
· "I Shot Andy Warhol" (TAG, 1996, Soundtrack)
· "Eat/Kiss" (Hannibal, 1997, Musik aus zwei Filmen
von Andy Warhol)
· "Nico/Dance Music" (Detour, 1998, Balletmusik)
· "Somewhere in The City" (Velvel, 1998, Soundtrack)
· "Le Vent De La Nuit" (Les Disques du Crespuscules,
Filmmusik, 1999)
· "The Unknown" (Les Disques du Crespuscules, Filmmusik,
1999)
· "Love Me" (Mercury France, 2000, Soundtrack)
· "Saint-Cyr" (Archipel 35/Virgin France, 2000,
Soundtrack)
· "Sun Blindness Music" (Table of Elements, 2000)
· "Days of Niagara, Inside the Dream Syndicate Vol.
I" (Table of Elements, 2001)
· "Dream Interpretation, Inside the Dream Syndicate
Vol. II" (Table of Elements, 2001
· "Stainless Gamelan, Inside the Dream Syndicate Vol.
III" (Table of Elements, 2001)
· "Five Tracks" (EMI, 2003, Mini-CD mit fünf
neuen Stücken)
· "Hobo Sapiens" (EMI, 2003)· "Le Bataclan
`72" (Alchemy, 2003)
· "Process" (Syntax, Soundtrack, 2004)·
"Black Acetate" (EMI, 2005)
· "Circus Live" (EMI, 2007)
Quellen
· Victor Bockris und Gerard Mangala: Up-Tight - The Story
of The Velvet Underground, Neuauflage, London 1996
· John Cale und Victor Bockris: What's Welsh for Zen?, London
1999
· Mark Ford: The style it takes, London Book of Reviews,
Vol. 21, No. 18, London 1999
· Barry Graves, Bernward Halbscheffel, Siegried Schmidt-Joos:
Das neue Rocklexikon, Hamburg 1998
· Frederick W. Harrison: West meets East - Or how the sitar
came to be heard in western pop music, Journal on Media Culture,
Ausgabe 4, April 2001
· Harald Klinke: The Velvet Underground Eine Untersuchung
des ästhetischen Einflusses Andy Warhols auf die Band, unveröffentliche
Seminararbeit an der Freien Universität Berlin, 1997
· Tim Mitchell: Sedition and Alchemy - A Biographie of John
Cale, London 2003
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