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Jenseits
vom Notenpult (oder: ein Bratscher wird 60)
Wenn
jede Originalkomposition von der barocken Zeit bis zum brandaktuellen
und wahrscheinlich ersten Bratschenkonzert des 21. Jahrhunderts
(Gil Shohat, 28-jähriger Jungstar der israelischen Komponistenszene
hat das Opus geschrieben und Tabea Zimmermann im Oktober 2001 in
Berlin uraufgeführt) seinen Reiz verloren hat, wenn jede Transkription
für Bratsche von mittelalterlichen Tänzen über die Cello-Suiten
bis zu Verbrechen der Neuzeit (gibt es etwa neben den "Pop-Hits
für Blockflöte" auch "Pop-Hits für Bratsche"?) abgenudelt ist, dann
strebt die/der Bratschenbegeisterte zu anderen (musikalischen) Ufern.
Ein Blick in den Jazz zeigt zwar, dass die Viola existent ist -
auf das Titelbild des Tickets Nr. 43/2001, der Tagesspiegel-Kulturbeilage,
hat es z.B. Martin Stegner, Bratscher bei den Berliner Philharmonikern
und bei seiner "Philharmonic Jazz Band" geschafft. Hier scheint
man sich dem Jazz jedoch eher akademisch zu nähern. Große Namen
wie bei der Geige (Stephane Grapelli) sucht man jedenfalls vergebens
(wer kennt bekannte Jazz-BratscherInnen? Bitte melden!).
Bei
der kleinen viersaitigen Verwandten sieht es mit der Migrationsbewegung
von der E- in andere Musiken ganz anders aus. Zwar gibt es auch
unrühmliche Beispiele (Vanessa-Mae kann dem geneigten Popkonsumenten
nicht nur die vier Jahreszeiten fiedeln, sondern auch nasse T-Shirts
tragen), die mit dem Schlüssel- und Gummibegriff "Cross-Over" zu
bezeichnenden Ausflüge des "Punkgeigers" Nigel Kennedy zu Jazz und
Jimmy Hendrix oder einem Solo bei Paul McCartney werden jedoch immer
wohlwollend zur Kenntnis genommen (ein ganz böser Bratschenwitz
von Herrn Kennedy: was ist die Gemeinsamkeit zwischen Bratschern
und den Terroristen des 11. Septembers? "Problems with the bowing/Boeing!").
Im Jazz gibt es den Spannungsbogen zwischen den Traditionalisten
wie Stephane Grapelli (s.o.) und den jungen Wilden (z.B. Billy Bangs).
Mik Kaminsky hat mit seiner elektrischen Geige neben den zwei Cellisten
in der Glanzzeit (ca. 1973-1979) das Electric Light Orchestra erleuchtet.
Im Grenzbereich zwischen Pop und Avantgarde operiert die zynische
Laurie Anderson (die auch schon mal einen Bogen mit Tonband als
Haare benutzte, den sie dann mit dem Magnetkopf auf der Geige als
Abspielgerät zusammenbrachte). In Deutschland kennt man im Pop-/Rock-/Independentbereich
Namen wie City und Hans die Geige (Ostrock), Das Holz (zwei Geigen
und ein Schlagzeug) und die Inshtabokatables (Hauptakteure des Mittelalterrock).
Im Folk- und Countrybereich spielt die Geige seither eine wichtige
Rolle.
Aber
die Bratsche? Es gibt avantgardistische Streichquartette (Kronos
Quartett, Modern String Quartett, Turtle Island String Quartett),
das Penguin Café Orchestra hat mit Geoffrey Richardson einen außerordentlich
vielseitigen Bratscher (der auch Gitarre, Bass, Mandoline, Ukulele,
Cuatro spielt). Ja, es gibt noch Robbie Steinhardt, der bei den
Rockklassikern Kansas (ja, genau, die mit dem Kulthit "Dust in
the Wind", der eine schöne Streicherbegleitung besitzt) Geige
und Bratsche bedient. Auch die Herren von Cream haben die Bratsche
des Produzenten Felix Pappalardi eingesetzt (Bassist Jack Bruce
ist übrigens klassischer Cellist). Um eigenständige, expressive
Solisten zu finden, muss man lange suchen. In den Siebzigern waren
die Avantgardeband Art Zoyd aus Frankreich (Gerard Hourbette) und
die deutschen "Parzifal" mit Violasolisten ausgerüstet. In der heutigen
Zeit sind dies z.B. Violet Cab (mit Viola, Live-Elektronik, Drums)
und E.A.R. (Experimental Audio Research), die Rockmusik, E-Viola
und Improvisationsästhetik miteinander verbinden und in Berlin z.B.
anläßlich der Kunstausstellung "SENSATIONS" im Jahr 1999 aufgetreten
sind. Es lohnt sich, den Spuren nachzugehen, hier liegt Material
für weitere Artikel über die Bratsche - über den Notenpultrand betrachtet
- verborgen.
Aber es geht hier um einen bestimmten Mann, den Paten der elektrischen
Bratsche, der schon viel früher aktiv war. Er hat das Instrument
dahin gebracht, wo sich kein anderes Orchesterinstrument bis dahin
vorgewagt hat!
Am
Abend des 14. November 2001 läuft zur besten Sendezeit am Abend
Jan Schüttes deutsch-polnische Produktion "Der Abschied"
über einige der letzten Tage Bert Brechts , im August 1956 in seinem
Refugium am Buckower Schermützelsee. Der Film wird von wenigen schlanken,
wiederkehrenden, mal fröhlichen, mal melancholischen Klavierthemen
unterlegt. Komponiert hat sie ein überaus vielseitiger Komponist,
Songwriter, Sänger mit markanter, leicht nasaler Stimme, Performer,
Produzent und Musiker, der Keyboards, Gitarre, Bass bedient und
....ja, natürlich, bekannt für sein elektrisches Bratschenspiel
ist: John Cale.
Am
29. November werden anläßlich seines Berliner Auftrittes am 4. Dezember
2001 auf Radio Eins Ausschnitte aus einem einstündigen Interview
gesendet. Am 4. Dezember zeigt er sich dann in Höchstform auf der
Bühne des ausverkauften BKA-Luftschlosses, in Lederhose und weitem
Leinenhemd, hinter dem Flügel oder an der Gitarre, und bietet ein
Einblick in sein Songschaffen der letzten 30 Jahre. Es ist erstaunlich,
dieser Mann hat am 9. März 2002 sein 60. Lebensjahr vollendet (und
in den Medien leider nur gähnende Leere)! Berlin ist ihm nicht unbekannt,
denn er hat eine einst unbekannte, jetzt mit Kultstatus versehene
Berliner Band, deren erstes Album nur 800 Anhänger fand, in London
für das Major-Label Polydor produziert: Element of Crimes "Try to
be Mensch". Über den Brecht-Film wurde schon oben berichtet. Cale
hat die Musik in Berlin in wenigen Stunden skizziert. Und in Berlin
wird er im Frühjahr 2002 im Hebbeltheater seine Biographie auf die
Bühne bringen.
Jugend
Geboren
wurde Cale am 9. März 1942 in Garmant, Wales. John Cale beschreibt
seine Jugend im provinziellen Wales wesentlich geprägt von der Dominanz
der Mutter - und der Unfähigkeit, mit dem Vater zu sprechen. Der
spricht kein Walisisch, und Englisch lernt John erst mit sieben.
Er genoß eine klassische Ausbildung, beginnt mit sieben Jahren das
Klavier- und Violaspiel, spielt die Kirchenorgel und die Viola im
walisischen Jugenorchester. Seine erste eigene Klavierkomposition,
"Toccata in the Style of Khachaturian" wird mit 13 beim BBC
aufgenommen. Er studierte am London Conservatory of Music ("Goldsmith
College") Piano und Viola. Die Leidenschaft Cales für Musik beschreibt
auch eine Sehnsucht nach Verständigung. Die Kunst wird nicht zur
Heimat, sondern bleibt ein Fluchtpunkt. Ob im Jugendorchester, nachts
am Radio (wo er Rock`n`Roll, Skiffle und Jazz entdeckt) oder am
Konservatorium, wo er das erste Mal seine Lehrer befremdet, als
er zum Studienabschluss ein Klavierkonzert im Knien mit den Ellbogen
gibt. Das war 1960, später nimmt er schon mal die Axt. Cale ist
von Selbsthass geplagt, aber mit einem Leonard-Bernstein-Stipendium
in den USA (Berkshire School of Music bei Boston) ausgerüstet, vermittelt
von den Komponisten John Cage und Aaron Copland, die er hartnäckig
bearbeitet hat, um New York zu erreichen, ein Jugendtraum, obwohl
der amerikanischen Komponist Aaron Copland Cales Spielweise für
destruktiv hielt und um die institutseigenen Instrumente fürchtete.
Mit dem Avantgarde-Komponisten und (Fast-)Namensvetter John Cage
führte Cale ein Pianowerk Saties auf, dessen Hauptthema von 13 Pianisten
in 36 Stunden 866 mal wiederholt wurde. Cale kam nach eigenen Angaben
anfangs nie auf die Idee selbst Rock`n`Roll-Musik zu spielen, sondern
beschäftigte sich mit der klassischen Avantgarde-Musik, elektronischer
Musik und Performance.
La
Monte Young und Velvet Underground
Mit
Entschlossenheit steigt Cale dann von der Avantgarde immer weiter
in den Rock-Underground. Einen entscheidenden Einfluss übt der Komponist
La Monte Young aus. Der legendäre Minimalist, dessen Arbeit kaum
dokumentiert ist, experimentiert mit Cale und dem Violinisten Tony
Conrad, in der Gruppe Dream Syndicate. Hier hört man zum ersten
Mal Cales charakteristisches Viola-Dröhnen, das später durch den
Sound der Formation klingen sollte, die John Cales Ruhm begründete
und sein Ego bis heute verstört: The Velvet Underground. Für einen
spezifischen Sound bespannte Cale seine Viola mit Gitarrensaiten
und stimmte sie in einer ungewöhnlichen Weise. Auf Konzerten spielten
The Dream Syndicate Stücke, die aus einzelnen, langanhaltenden Tönen
bestanden, die über Stunden ununterbrochen gespielt wurden. Damit
erprobte Cale die monotone und minimalistische Spielweise, die später
typisch für Velvet Underground werden sollten. Cales Kenntnisse
über serielle Formen der Musik bildeten den Grundstein für den ganz
eigenen, anderen und damals fast revolutionären Sound der Velvet
Underground. Cale kam zwar von der Klassik, erkannte aber in Lou
Reed und dessen Songs einen, der ihm auf eine anspruchsvolle Art
das große Gebiet des Rock`n`Roll näherbringen konnte und mit dem
er seine eigene Musikvorstellung verwirklichen konnte. Cale war
jedoch nicht nur auf die Viola beschränkt, mit der er elektronische
Splitterbomben warf, sondern spielte bei Velvet Underground abwechselnd
Klavier, Gitarre und Bass. Der Pop Art-Papst Andy Warhol engagierte
die Band, die sich 1965 in Syracuse, New Jersey als The Falling
Spikes, gegründet hat, für seine Multi-Media-Show "The Exploding
Plastic Inevitable", die ab April 1966 im "Dom" (Polnisch für Haus)
auf der New Yorker Lower East Side gezeigt wurde. Nico alias Christa
Päffgen aus Deutschland, damals Superstar der Warholschen Film-Factory
und schon eine Single in der Tasche, half der Band als distanzierte
Sängerin mit einem unvergleichlichen leeren, morbiden und nicht
ganz sicheren Gesangsstil. Ihre Versuche, der Band Dylan näher zu
bringen, scheiterten. Sie hassten die "Folkies" und Dylan, orientierten
sich an Gitarrenbands. Nicos Anteil an der ersten LP wird überschätzt,
sie sang nur drei Stücke. Mehr Raum wollte ihr der egoistische Lou
Reed nicht lassen, auf der Bühne speiste er sie oft mit dem Tambourin
ab. Im Frühjahr 1967 ging sie.
Der
Name der Band ist Synonym für die verruchte Seite der Rockmusik,
für Drogen und Sex, Lärm und Gewalt. Im Zentrum stehen mit Cale
und Lou Reed zwei genialische Exzentriker, deren Grossmäuligkeit
ihrer Brillanz kaum nachstand. In seiner Autobiografie bemüht sich
Cale mit gewissem Erfolg, die Spur geteilter Nadeln und Frauen,
Ästhetik und Ideen objektiv zu schildern. Die Beziehung zwischen
ihm und Reed wirkt symbiotisch, man hält sie fälschlich für ein
Liebespaar. Tatsächlich, mutmasst Cale bescheiden, war seine sexuelle
Verweigerung womöglich ein Grund für Reed, den Freund und Katalysator
aus der Band zu mobben. Cales kompositorischer Anteil an den Velvet
Underground-Stücken ist größer, als es auf den Plattenhüllen dokumentiert
ist. Cale macht von Beginn an Reeds Egomanie für Streitereien und
Enttäuschungen verantwortlich, bis hin zu den letzten Gemeinschaftsarbeiten,
dem mit Lob bedachten Warhol-Requiem "Songs for Drella (1990) und
der Velvet-Underground-Reunion von 1993. Der Rausschmiss im Oktober
1968 nach den Alben "Velvet Underground & Nico" (März 1967) und
"White Light/White Heat" (Januar 1968) jedenfalls wird für Cale
eine zentrale traumatische Erfahrung. Dafür bekam er aber am gleichen
Tag einen Vertrag von Columbia für zwei Alben und bekommt freie
Hand für die Verbindung zwischen Klassik und Rockmusik.
Die
Solojahre
Fortan
vergiesst er sein Herzblut in den Soloarbeiten, produziert heute
Legendäres von The Stooges, Nico, deren Mentor er ist, oder Patti
Smith, aber die wirklich beunruhigende Energie konzentriert er in
seine Liveauftritte als Sänger, Gitarrist und Pianist. Er galt aufgrund
seiner künstlerichen Unbestechlichkeit als geistiger Führe. Sein
erstes Album nimmt er 1969 auf ("Vintage Violence"), es erscheint
im September 1970 und zeigt sein gutes Händchen für bemerkenswert
schöne und eigenständige Melodien.
Seine
Songs in dieser Zeit sind die besten, die er zu Papier bringt, kleine
Perlen, viel besser als alles, was von Lou Reed kommt: Close Watch,
Hanky Panky Nohow, Ship of Fools, ..... Seine Songs aus dieser Zeit
werden auch von Künstlern gecovert. Seine Einspielungen hatten die
"Qualität Hitchcockscher Mysterien": "Church of Anthrax"
"vereint klassische Erinnerungen, aktuelle Rock-Gegenwart, und
elektronische Zukunft zu raffinierten Essays musikalischer Universalität",
"The Academy In Peril" "arrangiert die musikalische Geschichte
Englands als konfusen Witz für Eingeweihte", "Paris 1919" verzerrt
"die gesamte europäische Hochkultur durch eine dadaistisch-surrealistische
Perspektive", "Fear" schreckt als "Abenteuer-Trip in die
Nachtschatten-Welt eines Vierziger-Jahre-Films der schwarzen Serie",
"Music For A New Society" paralysiert als "Meisterwerk zum Puls-Aufschlitzen",
"Caribbean Sunset" sitzt "wie die Pistole auf der Brust",
"Artificial Intelligence" überraschte als "Werk eines Humanisten
mit der Freude am Skizzieren von Miniaturen." Cale sah sich
in seinem Metier fehl am Platz: "Ich habe im Rock`n`Roll nichts
verloren. Ich muß immer wieder darauf hinweisen, daß ich ein klassischer
Komponist bin, der seine musikalische Persönlichkeit damit verludert,
im Rock`n`Roll zu dilettieren." Sollte es eine Rückkehr zur
Klassik geben, "dann möchte ich wie Schostakowitsch dastehen. Wenn
die Zukunft der klassischen Musik jedoch in den Händen von John
Cale liegt, dann gnade uns Gott." John Cales Musik lebt vom
Nebeneinander E-musikalischer Avantgarde und Popmusik. Sein Werk
ist geprägt von Motiven des Kunstlieds, orchestralen Collagen, Film-
und Balettmusiken und kathartischen Rock-Zornesorgien.
Krieg,
Aggression, Zerstörung werden seine bevorzugten Metaphern. Das Publikum
zu überrumpeln und zu konfrontieren, wird zur Therapie für seine
Zerstörungswut, die sich im wirklichen Leben meist gegen ihn selbst
richtet. Berüchtigt ist Cale jedoch mehr für die symbolischen Attacken
aufs Publikum: vor allem für Verdunkelungsmanöver, für die gewalttätige
Aura der Eishockeymaske etwa, die er bei Konzerten trägt, für das
öffentlich ins Auditorium geköpfte Huhn in Croydon, 1976, mit dem
er selbst die anwesenden Punks schockierte. "Kein Mitleid mit
dem Huhn", sagt er heute.
Während
er sich die musikalischen Theorien aus dem klassischen Avantgardebereich
holt, nutzt er, wie ein rockender Antonin Artaud, die Unmittelbarkeit
des Populären. Ab einem bestimmten Punkt hält er die Performance
für das "Wichtigste, was ich bis dahin getan habe." Die Initiation
ist ein Auftritt in England mit Kevin Ayers, Nico und Brian Eno,
veröffentlicht unter dem Datum "June 1 1974", darauf Cales unvermeidliches,
zum Standard gewordene Fassung von "Heartbreak Hotel" mit
dem verzweifelten Gebrüll am Ende.
"Eine
Produktion", schreibt Cale, "ist erst komplett, wenn man
sie auf Tour bringt und auf ein Publikum loslässt." Solcherlei
Apodiktik, mit der er sich auch immer wieder seiner Rolle in den
verschiedenen Partnerschaften versichert, zielt natürlich auch auf
den "geschmacklosen Velvet-Kult", der den Blick auf seine
eigene Musik verstellt.
Sonne
scheint auch zu Beginn von Cales Solokarriere in Los Angeles, die
er als Talentscout für Warner Bros. finanziell fundieren kann. Hier
trifft er die Studio-Elite der Westküste. Kalifornien, das heisst
auch für Cale schnelle Autos, schneller Erfolg und schnelle Drogen.
Privat tut sich jedoch bald ein weiterer Abgrund auf - neben drogeninduzierter
Nachlässigkeiten vor allem in Form einer desaströsen Ehe mit einer
Musikerin der von Frank Zappa protegierten Frauenband GTO. Es folgen
der Umzug nach London, ein paar Platten, ein paar verwüstete Bekanntschaften,
und Cale kehrt ausgebrannt zurück nach New York. Zwischen 1976 und
1980 erscheint ausser "Sabotage Live" nur eine, nicht von Cale selbst
verantwortete, Kompilation namens "Guts". "Honi Soit" aus dem Jahr
1981 kommt wieder frisch daher, in Rockbandbesetzung. Cale scheint
die Errungenschaften der letzten Jahre (Punk) zu filtern, und vermischt
sie mit Rock und New Wave. "Riverbank" ist wieder einer dieser klassischen
Cale-Balladen für die Ewigkeit, Bestandteil seiner Soloabende.
Mitte
der Achtzigerjahre scheint ihn die Geburt seiner Tochter Eden zu
retten, auch nach der wieder unvermeidlichen Trennung von deren
Mutter Risé. Er macht eine Entziehungskur, treibt besessen Sport,
um seinen Körper jung zu halten, freut sich an Designerzwirn und
stürzt sich in die Arbeit. Auch die verkorkste Velvet Underground-Reunion
wirft ihn nicht nachhaltig aus der Bahn. "Ich habe im Moment
die positivste und erfolgreichste Zeit meines Lebens", schreibt
er. Er möchte dem Rockzirkus den Rücken kehren: "Ich habe versucht,
ein Rockstar zu sein; daran bin ich nicht mehr interessiert. Glücklicherweise."
"Gott weiß, warum ich nicht tun kann, was Brian Eno oder Lou
Reed machen; und sie nicht das, was ich mache." 1996 hat der
"Rockstar" mit "Walking on Locusts" aber wieder ein eingängiges
Album mit potentiellen Hits (z.B. "Dancing Underwater") geschaffen,
sehr homogen, mit poppig-countryhaftem (Steelguitar) Charakter und
Weltmusikanklängen. Fast klingt er wie David Byrne, und der spielt
bei einem Stück tatsächlich Gitarre und ist Koautor. Die Streichersoli-
und Begleitungen stammen vom Soldier String Quartet.
Der
walisische Eigenbrötler schuf die Musik zum multimedialen Spektakel
"Life Underwater" und zum Film "American Psycho". Im Mai 2000 wurde
er Ehrendoktor der belgischen Universität Antwerpen.
Die
Autobiographie
So
zerklüftet, wie John Cales musikalische Arbeiten oft sind, liest
sich auch seine Autobiografie "What's Welsh for Zen". Cale hat sein
Leben mit oft schmerzhafter Klarheit dem Publizisten Victor Bockris
auf Band gesprochen, der nach Büchern über Warhol, Lou Reed und
Velvet Underground so etwas wie der offizielle Biograf der New Yorker
Popkultur der Sechzigerjahre geworden ist. Cale schickt seine Privatobsessionen
und sein Milieu, den Underground, auf die Couch. Mit der Direktheit
eines Liveauftritts beschreibt er, wie sich Drogen, Kunst und Handel
verstricken und gegen ihre Subjekte verbünden können. Unschärfen,
Redundanzen und Wiederholungen, Merkmale moderner Kunst und Musik,
haben der Autor und sein Protokollant bewusst zugelassen.
Dank
des Layouts von David McKean, das sich auf diese Form der Erzählung
einlässt, ist "What's Welsh for Zen" zugleich eine schicke Reliquie
für die Coffeetables mehrerer Generationen von Musikfans geworden.
Eingebunden in grossformatige Rohpappe, purzeln punkig collagierte
Schrifttypen und -grössen auf Erinnerungsfotos, die ausgewaschen
und brüchig sind. Hinzugefügt sind Statements von Weggefährten;
Songtexte werden assoziativ eingeworfen, und Tuschezeichnungen,
schief und kantig, greifen wichtige Stationen auf.
"What's
Welsh for Zen" ist keine Abrechnung und auch kein Klatschbuch. Zu
heftig ist die Selbstkritik, zu düster sind meist die Skandale um
Sex, Drogen und andere Exzesse. "Während ich das Buch schreibe,
werde ich trauriger und trauriger. Ich finde keine Selbsterkenntnis,
nicht die geringste Selbstachtung und keine Vision", heisst
es einmal in einer Passage zu den Achtzigerjahren.
Selten
sind Cales Erinnerungen so unbeschwert wie in den frühen New Yorker
Tagen, mit leichten Drogen von La Monte Young, "dem besten Dealer
der Avantgarde." Die Freundschaft mit Andy Warhol ist eine der
wenigen dauerhaft freundlichen Erlebnisse in Cales Leben. Immer
wieder kreuzen sich ihre Wege, auch nachdem Lou Reed Warhol als
Manager von Velvet Underground absetzt.
Auch
in seinem Buch ist Cale ein guter Erzähler, der sich der Stimmungen,
die er vermittelt, sicher ist. So meint er zu seiner besten Platte:
"Music for a New Society" ist freudianisch. Quälend ist das richtige
Wort. Alle Figuren in den Liedern haben etwas verloren. Unglücklicherweise
endet es für die Hauptfiguren immer in der Isolation. Die Stücke
zu singen war für mich wie Method Acting."
Gelegentlich
raunt es ein wenig heftig, John Cales walisisches Zen-Mantra, von
den Frauen, Freunden, Drogen, die ihn durch die Jahre verlassen
haben, zuallererst die Mutter, die für Jahre auf der Krebsstation
verschwindet. Dann gehen die Lebern kaputt, seine eigene und auch
die von Lou Reed, und es sterben die Leute: Warhol, Nico, Sterling
Morrison, dem das Buch gewidmet ist, (Bassist und Gitarrist bei
Velvet Underground, später Literaturdozent), der Vater, der "eine
leere Seite" bleibt.
Eine
1992 erschienene Aufnahme eines Soloauftritts nennt er "Fragments
of a Rainy Season". In ihrem Lauf durch die Jahrzehnte wirkt sie
wie eine autobiografische Herbstreise. "What's Welsh for Zen" funktioniert
ähnlich, eben nicht nur gelebt, sondern auch komponiert. In der
Einleitung heisst es: "Each piece in the book in a sense might
be like a song in that its short, sweet, satisfying, amusing, informative
and cool (and hip)."
Diskographie
(ohne Singles und Sampler), mit Label und Erscheinungsjahr:
·
"LaMonte Young's Dream Syndicate" (Columbia, 1962)
·
"Table of Elements" (Sun Blindness Music, Musik aus der Zeit von
1965 bis 1968)
· "The Velvet Underground & Nico" (mit Velvet Underground, Verve,
1967)
· "White Light/White Heat" (mit Velvet Underground, Verve, 1968)
· "Vintage Violence" (Columbia, 1970)
· "The Church of Anthrax" (mit Terry Riley, Columbia, 1971)
· "The Academy in Peril" (Reprise, 1972)
· "Paris 1919" (Reprise, 1973)
· "Fear" (Island, 1974)
· "June 1 1974" (mit Kevin Ayers, Nico und Brian Eno, Island, 1974)
· "Slow Dazzle" (Island, 1975)
· "Helen of Troy" (Island, 1975)
· "Guts" (Island, 1977)
· "Sabotage Live" (Spy, 1979, Livealbum)
· "Honi Soit" (A&M, 1981)
· "Music for a New Society" (Ze, 1983)
· "Carribean Sunset" (Ze, 1984)
· "John Cale Comes Alive" (Ze, 1985)
· "Artificial Intelligence" (Beggars Banquet, 1986)
· "Even Cowgirls get the Blues" (Special Stock, 1986, Livealbum
aus dem Jahr 1978)
· "Words for the Dying" (Opal, 1989)
· "Wrong Way Up" (mit Brian Eno, Opal, 1990)
· "Songs for Drella" (mit Lou Reed, Sire, 1990)
· "Paris S'Eveille" (Les Disques du Crespuscules, 1991)
· "Fragments for a Rainy Season" (Hanniba1, 1992, Livealbum)
· "Live MCMXCIII", (mit Velvet Underground, Columbia, 1993, Livealbum)
· "Seducing Down the Door" (Rhino, 1994)
· "3 Solo Pieces for La naissance de L'Amour" (Les Disques du Crespuscules,
1993)
· "Last Day on Earth" (mit Bobby Neuwirth, MCA, 1994)
· "Peel slowly and see" (CD-Box mit Velvet Underground, Columbia,
1995)
· "N'Oublier Pas Que Tu Vas Mourir" (Les Disques du Crespuscules,
1995)
· "Antartida" (Les Disques du Crespuscules, 1995)
· Island "The Island Years" (Island, 1996)
· "Walking on Locusts" (Hannibal, 1996)
· "Eat/Kiss" (Hannibal, 1997, Musik aus den Filmen von Andy Warhol)
· "Nico/Dance Music" (Detour, 1998)
· "Le Vent De La Nuit" (Les Disques du Crespuscules)
· "Unknown" (Les Disques du Crespuscules)
· "Close Watch" (Polygramm)
Darüber
hinaus hat er auf vielen Samplern seine Spuren hinterlassen. Mitgewirkt
als Musiker hat er neben vielen anderen Produktionen bei den Tonträgern
von William Burroughs, Leonhard Cohen, Brian Eno, Nick Drake, Mike
Heron, Nico, The Replacements, The Stooges, Maureen Tucker, und
Suzanne Vega.
Die
Liste seiner Produzententätigkeit ist sehr lang: Nicos erste Alben,
bei denen er auch als Musiker und Komponist aktiv war, und in alphabetischer
Reihenfolge Elements of Crime, Lio, Jesus Lizard, Happy Mondays,
Jonathan Richman and the Modern Lovers, Patti Smith ("Horses"),
Siouxsie an The Banshees, Squeeze, The Stooges (bei beiden z.B.
die hochgelobten Debütalben), Jennifer Warnes, und, und, und...
Cales
Bratschenspiel
Als
Beispiel für sein Bratschenspiel sollen hier vier Songs dienen:
Ein Stückchen von "Heroin" (Lou Reed) sowie der Song "The Black
Angel`s Death Song" (Cale/Reed), beide vom ersten Velvet Underground-Album
und beide Beispiel für den typischen eintönigen "Bordunstil". "Wall",
ein Violasolo, kommt von den Aufnahmen zum ersten Soloalbum und
kam erst bei der Neuauflage auf die CD. Es steht ebenfalls für Cales
avantgardistischen Stil. "The Streets of Laredo" vom Album
"Honi Soit" ist eine schräge Version eines amerikanischen traditionals,
mit schöner Soloviola.
Aus
urheberrechtlichen Gründen können die Stücke hier
leider gar nicht als mp3-Dateien gespeichert werden. Wer sich aber
in den einschlägigen Internet Tauschbörsen (z.B. Audiogalaxy)
umsehen möchte oder gar die eine oder die andere CD erstehen
will, erhält hier konkrete Infos zu den Stücken:
"Heroin" (aus der CD The Velvet Underground & Nico,
1967)
"The Black Angel's Death Song" (aus CD The Velvet Underground
& Nico, 1967)
"Wall" (aus der CD Vintage Violence, 1970)
"Streets of Laredo" (aus der CD Honi Soit, 1981)
Sven-Martin
Nielsen, März 2002
Quellen:
John Cale und Victor Bockris: What's Welsh for Zen? Mark Ford: The
style it takes Barry Graves, Bernward Halbscheffel, Siegried Schmidt-Joos:
Das neue Rocklexikon Harald Klinke: The Velvet Underground Eine
Untersuchung des ästhetischen Einflusses Andy Warhols auf die Band
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